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Girls‘ Morning Out

Ich habe eine beste Freundin und das ist ein riesengroßes Glück. Wir haben zusammen Abitur gemacht, das ist inzwischen eine Weile her, und kennen uns nun schon etwas länger als unser halbes Leben. Neben unserem gemeinsamen Interesse für Indierock, unserem wahnsinnig guten Humor und der phänomenalen Fähigkeit, Bierflaschen mit Medaillen zu öffnen (oder den Zähnen, wofür wir aber inzwischen zu vernünftig sind), verbindet uns auch die Leidenschaft fürs Laufen.

Zwar haben wir zu Schulzeiten in derselben Stadt gelebt und auch Teile des Studiums noch in relativer örtlicher Nähe zueinander verbracht, doch spätestens mit dem Berufseinstieg zog es meine Freundin in urbanere und kosmopolitischere Gefilde als Nordrhein-Westfalen zu bieten hat – seither sehen wir uns seltener, als wir beide gut finden. So mag es wenig erstaunen, dass wir die raren Treffen dann ordentlich feiern.

Lange, lange Zeit bedeutete das vor allem, feste anzustoßen. So oft und so viel, bis von dem kostbaren Abend (oder Tag) leider nicht mehr viel übrigblieb. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass auch von mir selbst nicht mehr viel übriggeblieben war. Meine Konsequenz daraus war weder, das Feiern einzustellen, noch das Anstoßen, denn ich stoße wirklich gerne an und mag schicke Gläser sehr. Doch mein Glas wird fortan nur noch alkoholfrei befüllt. Das ist heute seit genau fünf Jahren so.

Running on empty

Nun soll es hier hauptsächlich ums Laufen gehen (und eben um mich) und vielleicht mag man sich  fragen, was Laufen und Saufen miteinander zu tun haben. Gar nicht so wenig.

Ich erinnere mich heute mit einigem Befremden daran, wie sich besagte beste Freundin im Sommer spontan zu einem Besuch ankündigte – drei Wochen vor einem Marathon, für den ich trainierte, der letzte lange Lauf in der Vorbereitung stand auf meinem Sonntagsmorgenprogramm. Es war unfassbar heiß, im Grunde wäre sechs Uhr morgens daher eine gute Zeit zum Loslaufen gewesen. Und so freute ich mich zwar darauf, meine Freundin zu sehen, doch gleichzeitig nahm ich ihr den Besuch zu diesem Zeitpunkt übel, fand ihn eigentlich gedankenlos, denn ich wusste einfach, dass ich sonntags verkatert sein würde. So kam es dann auch, an über 30 Kilometer war nicht im Traum zu denken und ich war vor allem unglaublich wütend auf mich selbst, mal wieder.

So ging es mir an vielen Sonntagen. Und Samstagen. Und manchmal auch an anderen Tagen. Bei weitem nicht an allen: Ich lief meine Marathons, zog eisenharte Trainings durch, war erfolgreich im Job, absolvierte nebenbei ein Zweitstudium. Ich ernährte mich meistens gesund und ließ am Wochenende eben manchmal ein wenig Dampf ab. Klar, das wurde gelegentlich etwas wild, aber das wollte ich doch auch, dieses „wilde Leben“. Oder?

Verkatert an die Startlinie?

Am 2. April 2017 fand in Bonn ein Marathon statt, dort war ich für die halbe Distanz angemeldet, 50 Euro Startgeld hatte ich gezahlt. Gelaufen bin ich nicht, denn ich war schon am 1. April dermaßen verkatert, dass 21,1 Kilometer am nächsten Morgen einfach nicht zur Debatte standen. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich mir selber auf diese Weise wertvolle Lebenszeit gestohlen habe.

Am 27. März 2022 stehe ich um sechs Uhr morgens auf (also wegen der Zeitumstellung war das eigentlich fünf, Bäm!) und treffe mich mit meiner besten Freundin zum letzten Long Run vor ihrem anstehenden Halbmarathon. Inzwischen sind wir beide Mütter und es ist wirklich nicht so leicht, diese langen Läufe im Familienkalender unterzubringen. Was für ein Glück, dass es an diesem Morgen sogar gemeinsam klappt! Wir haben das Leben und uns beide so sehr gefeiert – mit rund 20.000 Schritten und Leitungswasser aus dem Trinkrucksack.

Haaresbreite

Warum schreibe ich das alles? Weil es ein schmaler Grat ist, auf dem viele von uns laufen. Wir verstecken unsere Sorge hinter pseudoselbstreflexiven, ironisch gebrochenen Sprüchen („Man muss seinen kleinen Alkoholismus ja pflegen“, „Klar trinke ich zuviel“, „Die Leber wächst mit ihren Aufgaben“, und, wenn sonst nichts mehr hilft, „So jung komme mer nit mer zosamme“), Heldengeschichten von verkatert gelaufenen Bestzeiten und unseren liebgewonnen Stereotypen und Vorstellungen davon, wie echte Alkoholprobleme aussehen. Meine Erfahrung ist, dass auch 50 und mehr gelaufene Wochenkilometer einen nicht (und auch nicht eine) davor bewahren, eines zu haben. Inzwischen ist meine Erfahrung auch, dass es nicht ehrenrührig ist, mit dem Trinken ein Problem zu haben. Und noch weniger, damit aufzuhören, obwohl sich genau das paradoxerweise fast für jeden und jede Betroffene so anfühlt.

Wir leben in aufregenden Zeiten, in denen „sober curious“ ein echtes Ding ist und nüchtern zu leben viel bunter und „normaler“ erscheint, als noch vor einigen Jahren. Kluge Sprüche wie „Ich kenne keinen einzigen lustigen Abstinenzler“ oder „Kein Alkohol ist auch keine Lösung“ werden zum Glück seltener. Ich habe sie früher selbst gesagt und geglaubt.

"Das Leben ist so groß oder so klein wie wir es machen."

Irgendwo bin ich über diesen Satz gestolpert, der es für mich sehr gut auf den Punkt bringt. Lange hat es sich angefühlt, als würde mein Leben durch Alkohol leichter, aufregender, freier, bis es eben unmerklich immer kleiner wurde. Heute gibt es ganz wenige Momente, in denen ich an ein Glas eiskalten Weißwein denke und es sind wirklich nie die Momente, von denen ich es früher vermutet hätte (Partys, Lebensereignisse, Festtage, Essen gehen, you name it): Es sind die ausgepumpten Abende, wenn zu viele offene ToDos sich stapeln, Hormone tief fliegen, die Frisur nicht sitzt und der Finanzbeamte am Telefon schlecht gelaunt herumgepampt. Dann brauche ich wie jeder Mensch ein Ventil, denn ich bin eben kein glitzerpupsendes Glückseinhorn – und das ist gut so. Ich gehe dann laufen oder in die Wanne oder ich – crazy! – setze mich mit meinen Gefühlen auseinander. Manchmal motze ich auch die Menschen an, die ich am liebsten habe. (Und entschuldige mich in aller Regel hinterher.) Der Gedanke an einen Drink kommt mir in solchen Situationen inzwischen so selten, dass ich ihn dann ein bisschen verwundert betrachte, wie eine alte Erinnerung daran, wie Leute etwas früher gemacht haben.

Fehlt meinem Leben nun der Gin? An keinem einzigen Tag. Ich habe festgestellt, dass Gefühle okay sind, die guten und die schlechten. Am Anfang war es ganz schön viel, aber ähnlich wie beim Yoga hilft Üben. Wie mein Leben sich in den letzten fünf Jahren angefühlt hat, das ist ein bisschen so, als hätte jemand in einen Schwarzweißfilm langsam die Farbe reinlaufen lassen. Und es wurde einfach riesengroß.

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