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Über einen Baum

„Was bedeutet es, frei geboren zu sein, aber nicht frei zu leben? Welchen Wert hat politische Freiheit, wenn sie nicht Mittel ist für moralische Freiheit? Ist es die Freiheit, Sklave zu sein, oder die Freiheit frei zu sein, auf die wir stolz sind?“ 

Henry David Thoreau, „Leben ohne Prinzipien“

 

 

Meine Freundin und ich laufen durch den Wald. Das ist mit Abstand das Beste, was dieser Tag zu bieten hat, den ich bis dahin sitzend im Büro verbracht hatte, heute unter einem massiven „Was mache ich hier eigentlich?“-Eindruck stehend. Klar gibt es auch viele andere Tage, aber heute habe ich das Gefühl, nicht nur Lebenszeit, sondern auch Energie zu verkaufen und zweifle stark daran, dabei einen guten Deal gemacht zu haben.

Jedenfalls ist es ein sehr guter Tag, um durch den Wald zu laufen. Die Bewegung befreit mich von meinem Frust, bringt Distanz zwischen mich und diesen irgendwie unwürdigen Tag. Zwar lade ich meinen Ärger zunächst noch bei der Freundin ab, die diese Unart von mir höflich erträgt, doch je weiter wir Schritt an Schritt reihen, umso blasser und unwichtiger wird der missratene Bürotag.

Freundlicherweise hat sich das frühe Maiwetter zum Feierabend hin noch einen Ruck gegeben: Die Luft ist frisch, fast kühl, der Himmel klar und blau. Der Mond präsentiert sich jetzt schon ein wenig eitel und der Wald selbst riecht so fantastisch nach Frühling, dass es nicht zu fassen ist. 

 

In so einem leicht über den Dingen schwebenden Achtsamkeitspodcast, den ich ganz gerne in der Badewanne höre, hat es neulich ein Outdoorgym-Lifecoach-Diätbuchautor treffend auf den Punkt gebracht: Der Wald (und auch vieles andere, möchte ich ergänzen, also die ganze schweigende Natur, die wir „Draußen“ nennen, aber bleiben wir erst einmal beim Wald) bewertet dich nicht. Es ist ihm egal, wer du bist, was du kannst, was du leistest, wie du aussiehst. Du kannst hineingehen und einfach du sein. (Während ich hier so vor mich hinschreibend im ICE durch den Westerwald brettere und die Resultate der letzten Dürresommer durch das Fenster sehe, komme ich nicht umhin zu denken, dass es schade ist, dass uns der Wald leider oft genauso egal ist. Aber das sprengt wohl etwas den Rahmen dieses Textes.)


Dem Wald ist egal, wer du bist, was du kannst, was du leistest, wie du aussiehst.

 

Auf dem Gipfel des Battert ist es wunderschön und wir bleiben stehen, um die hinreißende Aussicht zu bestaunen. Ein paar Kletterer beenden in der Abendsonne ihre Routen an den majestätischen Felsentürmen und dank der klaren Witterung können wir unglaublich weit über die grünen Schwarzwaldhügel vor uns sehen. Die Stimmung hier ist in der Tat besonders, in diesem Märchenwald voller Licht. Mir ist vollkommen klar, warum die Romantiker so sehr in diese Motive versunken waren, denn hier kann man im Grunde gar nicht anders als auf die Knie sinken und Gedichte schreiben.

Als ich gerade denke, dass es eigentlich nicht mehr viel großartiger werden kann und mich schon aufs Bergablaufen freue, biegen wir um eine Kurve und es haut mich um: Da steht ein Baum wie ein Weltwunder, denn nichts anderes ist diese Eiche. Sie ist riesig und unglaublich schön. Ich habe wahrscheinlich noch nie einen so schönen Baum gesehen, denke ich unwillkürlich, bin absolut überwältigt und sofort bereit zu glauben, dass dieser Ort, an dem wir stehen, magisch ist. Irgendwo müssen wir, ohne es zu merken, durch die Tür des Narnia-Kleiderschranks gelaufen sein.


Irgendwo müssen wir, ohne es zu merken, durch die Tür des Narnia-Kleiderschranks gelaufen sein.


Ich bin nun wirklich kein besonders esoterischer Mensch, sondern im Gegenteil das Erziehungsresultat eines ziemlich atheistischen Haushaltes. Ich bin einfach gerne draußen und bemühe mich, wenn ich mir schon acht Stunden täglich am Schreibtisch den Rücken ruiniere, zum Ausgleich etwas Zeit in lebendigerer (und lebensfreundlicherer) Umgebung zu verbringen. Genau das steht hier vor mir, in konzentrierter Form: Das pure Leben muss durch diesen Baum fließen, in jedes seiner unzähligen Blätter, als würde er Verfall und Tod, die ja auch unweigerlich Teil des Lebens sind, schlichtweg nicht anerkennen. Es ist eine regelrechte Aura von Lebendigkeit zu spüren, die diese uralte Eiche umgibt. Ich kann nur davor stehen und staunen, voller Demut vor dem Wunder, das das Leben nun einmal ist, dieses unglaubliche Geschenk, das wir Tag für Tag für Tag mit uns tragen und das wir verdammt nochmal zu wenig bestaunen. Da steht diese Baum gewordene Energie, dieser jahrhundertealte Lebenswille, und ja, er strahlt. In diesem Moment würde es mich kein winziges Bisschen wundern, träte eine Fee oder ein Zauberer mit Schlapphut oder irgendein anderer Waldgeist hinter dem meterdicken Stamm hervor.


Die Batterteiche bei Baden-Baden

Läuferin vor Batterteiche

Ich habe bereits riesige Sequoias im Yosemite Park gesehen, ich habe die Tempelstadt Bagan bestaunt, ich war auf Hawaii und habe nachts in einen Vulkan geschaut, ich habe Ozeane gesehen und in einer Blechröhre überflogen und natürlich war ich auch im Kölner Dom. Aber manchmal hat man ja so seine lichten Momente, in denen man, ganz gleich wo man gerade ist und wie atheistisch oder zweifelnd man sonst auch eingestellt sein mag, begreift, was für ein Geschenk das Leben nun einmal ist, was für ein Geschenk auch diese Welt ist, an jeden, der sie irgendwie wahrnehmen, erleben kann. Dass das alles hier, trotz aller Krisen, aller Steuererklärungen und schweren Entscheidungen, ja selbst trotz Schmerz und Ungerechtigkeit und trotz allem Scheißdeterminismus ein Wunder ist und bleibt.

 

Manchmal hat man ja so seine lichten Momente, in denen man [...] begreift, dass das alles hier, trotz aller Krisen, Steuererklärungen und schweren Entscheidungen, ja selbst trotz Schmerz und Ungerechtigkeit und trotz allem Scheißdeterminismus ein Wunder ist und bleibt.


Wenn wir in unseren Geschichten, unserer Fiktion, die ja auch Fantasykram mit Drachen, magischen Ringen und leuchtendem Feenvolk umfasst, Magie beschreiben, wenn also Dinge beginnen von alleine zu leuchten oder zu fliegen, dann ist für die Rezipienten solcher Geschichten im Grunde sofort klar, dass all das „nicht echt“ ist. Mit dieser Begründung werden Filme sogar für ein jüngeres Publikum freigegeben, wenn also erkennbar ist, dass es sich nicht um einen „realen“ Kontext handelt.

Wenn wir uns beim Yoga oder beispielsweise in einer Meditation Licht oder Wärme vorstellen oder an ein Energiezentrum in uns denken sollen, kommt das vielen von uns schnell esoterisch oder zumindest etwas abgedreht vor. So ähnlich, wie wir Jodeln tendenziell ein bisschen albern finden, Bäumeumarmer für Spinner halten oder uns nicht trauen, laut zu singen oder bekloppt zu tanzen.

 

Das alles ist Quatsch. Die Wahrheit ist, dass diese ganze große Welt voller Magie ist: Dinge leuchten, Bäume strahlen, die Erde kann wackeln und es gibt wirklich nichts, egal wie schön oder wie schrecklich wir es uns vorstellen, was es nicht gibt. Paul Auster hat in einem Vortrag vor Literaturstudierenden einmal gesagt, das wahre Leben sei viel fantastischer, viel surrealer, als jede einzelne seiner Geschichten. Ich denke, das stimmt. „Real“, genau wie „normal“, ist ein Begriff, der den Vorstellungen, die wir von „Kreis“ oder „Kugel“ haben, in gewisser Hinsicht ähnelt: Auf den ersten Blick ein einfacher, sehr fassbarer Begriff, bei genauerer Betrachtung aber völlig abstrakt und unerreichbar. Erschwerend kommt hinzu, das „real“ für vermutlich für jedes Individuum etwas anderes bedeutet und kaum jemand erklären kann, was eigentlich genau. Während der Kreis und die Kugel für eine Idealvorstellung stehen, ist nicht klar, was an „real“ oder gar an „normal“ ideal sein soll.

 

Ich glaube, wir brauchen mehr Bereitschaft (und wahrscheinlich auch mehr Zeit) zum Staunen. Nichts ist trivial. Nichts ist selbstverständlich. Die ganze Welt steckt voller Magie, von Hawaii bis in den Schwarzwald. Wir müssen einfach hinsehen. Und beim Durch-den-Wald-laufen klappt das besonders gut – aber das ist nur meine Meinung. 

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